Molsberger Gespräche befassten sich mit Biodiversität und Rotmilan
Die Molsberger Gespräche der Will und Liselott Masgeik-Stiftung befassten sich in diesem Jahr mit der Biodiversitätskrise in Deutschland und im konkreten Fall mit der Bewegungsökologie des Rotmilans in Hessen im Hinblick auf die Errichtung von Windkraftanlagen. So freute sich der Vorsitzende der Stiftung Manfred Braun neben fast 80 Zuhörern die beiden Referenten des Abends in Molsberg begrüßen zu dürfen.
Mit Prof. Dr. Nina Farwig von der Philipps-Universität Marburg hatte die Stiftung eine der Hauptherausgeberinnen, des über 1.200 seitendicken Fachbuches „Faktencheck Artenvielfalt“ als Rednerin gewinnen können. In ihrem Vortrag konnte sie einen Einblick in das umfassende Grundlagenwerk geben. Der „Faktencheck Artenvielfalt“ wurde von über 150 Wissenschaftler*innen aus 75 Institutionen zusammengetragen und bietet eine fundierte, verständliche Bestandsaufnahme zur Biodiversitätskrise in Deutschland – mit klaren Ursachen, Folgen und Handlungsempfehlungen. Es liefert eine umfassende Analyse des Zustands der biologischen Vielfalt in Deutschland und zeigt, wie tiefgreifend die Biodiversitätskrise bereits in unsere Ökosysteme eingreift. So führte Frau Farwig aus, dass sich über 60% der FFH-Lebensräume in Deutschland in einem ökologisch unzureichenden oder schlechten Zustand befinden und über 40% der deutschlandweiten Biotoptypen einer negativen Entwicklung unterliegen. Viele Arten, darunter ehemals häufige, sind stark rückläufig oder bereits verschwunden. Ein Drittel aller Arten gelten als bestandsgefährdet. Negative Biodiversitätstrends zeichnen sich für fast alle Artengemeinschaften über alle Lebensräume hinweg ab.
Doch es gibt auch Gewinner bzw. positive Bestandstrend einzelner Arten und Artengemeinschaften, wie beispielsweise bei den Vögeln und Säugetieren im Wald und den Binnengewässern und Auen. Die Auswertung von Studien zu ganzen Artengemeinschaften und nicht nur einzelnen Arten hebt Farwig als Novum des Werkes ebenso hervor, wie die umfängliche Aufarbeitung der Bodenlebensgemeinschaften und die vorwiegend ehrenamtlich erarbeitete Datenbasis. Entwicklungen und Bestandstrends werden im Faktencheck Artenvielfalt meist auf einen Zeitraum der letzten 15 Jahre bezogen, da es in den meisten Fällen keine weiterreichenden auswertbaren Daten zu Biodiversitätsentwicklungen in Deutschland gibt. Als die vier wichtigsten direkten Treiber für den Artenverlust zitiert Farwig den Lebensraumverlust durch Flächenversiegelung und die Intensivierung der Landnutzung, den Stickstoffeintrag durch Düngung etc., den Einfluss von Schadstoffen, wie Insektizide und Pestizide und den Klimawandel. Aber auch indirekte Treiber haben Einfluss auf die Biodiversität: Während sich z.B. die Anwendung moderner Technologien in der Forst- und Landwirtschaft, Umsetzungen der Umweltpolitik und Veränderungen im Konsumverhalten positiv auswirken können, haben das Wirtschaftswachstum, die vielen weltwirtschaftlichen Krisen und die oft fehlende systematische Integration von Biodiversitätsschutz in allen Gesellschaftsbereichen negative Auswirkungen auf die Artenvielfalt. Ziel des Faktenchecks ist es laut Farwig wissenschaftlich fundierte Grundlagen für gesellschaftliche Entscheidungen zu schaffen – verständlich aufbereitet für eine breite Öffentlichkeit.
Im zweiten Impulsvortrag des Abends ging der Biologe Dr. Sascha Rösner intensiv auf die Bewegungsökologie des Rotmilans als ein Fallbeispiel der Artenschutzforschung in Hessen ein. Da energiepolitische Entscheidungen, wie die Installation von Windkraftanlagen und Fotovoltaikanlagen im Außenbereich unmittelbare Folgen auf einzelne Arten bzw. die Biodiversität haben, erforscht Rösner mit seinem Team seit 2017 die Bewegungsmuster von 37 besenderten Rotmilanen in ganz Hessen. Eine Herausforderung dabei stellt die hohe individuelle Bandbreite des Verhaltens der Greifvögel dar. Dennoch können mit Hilfe der über 10 Millionen Datenpunkte einheitliche Muster erkannt werden. So fanden 60% aller Flüge in einem Radius von 1,5km um den Horststandort statt und ein Viertel aller dokumentieren Flüge fand auf der Höhe der Rotorblätter von Windkrafträdern statt. Hieraus ergeben sich verschiedene Gefährdungsbereiche für den Rotmilan von einer Windkraftanlage getroffen zu werden. Obwohl die Windgeschwindigkeit keinen Einfluss auf das Flugverhalten der Vögel hat, könnte eine windabhängige Einschaltvorkehrung (ab 5,2 m/s) der Windkraftanlagen bis zu 90% aller Flugbewegungen der Milane schützen. Zum Schutz für die Vögel kommt jedoch insbesondere die Berücksichtigung der Abstände zu bekannten Horststandorten eine entscheidende Rolle zu. Weiterhin zeigen die Daten, dass die in der Praxis durchgeführten Raumnutzungsanalysen von Rotmilanen in einem Radius von 3km rund um einen geplanten Anlagenstandort oft eine hohe Deckung mit den tatsächlichen Flugdaten der Vögel hatten, es aber in 25 % aller Flüge der Vögel zu Fehleinschätzungen der beobachteten Raumnutzung kam. Diese Diskrepanz spiegelt sich dann auch in der Bewertung der Windkraftanlagenstandorte im Rahmen der Genehmigungsverfahren wieder. In wie weit die Raumnutzungsanalyse also die Erfassung der tatsächlichen Flugbewegungen der Vögel um einen geplanten Anlagenstandort zukünftig noch angewandt wird oder durch eine rein landschaftsbezogene Habitatpotentialanalyse ersetzt wird, wird sich zeigen. Auch die Vorgaben welche Abstands- und Abschaltregelungen gelten sollen, wird sich zukünftig durch die weiteren politischen Vorgaben und die Priorisierung des Ausbaus erneuerbarer Energieanlagen gegenüber dem Arten- und Biodiversitätsschutz zeigen. Solche und weitere Fragen konnten von Nina Farwig und Sascha Rösner an diesem Abend nicht geklärt werden, doch das ausführliche Gespräch mit dem Publikum zeigte, das die Fragen rund um die Biodiversitätskrise und zur Energiewende viele der Zuhörenden nach wie vor intensiv beschäftigt auch wenn im politischen und medialen Geschäft aktuell viele andere Themen bestimmend sind.